Weiterleben

Solange unsere Herzen nicht zufrieden sind, werden unsere Wunden immer schmerzen.

— Überlebende. In: Ezid_innen und der anhaltende Genozid. Informationsheft. Women for Justice, 2021, S. 48.

Aktuelle Situation

50.000 bis 100.000 Ezid_innen sind inzwischen nach Shingal zurückgekehrt. Durch den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) und ihre Belagerung Shingals wurden Teile der Infrastruktur zerstört. Zugang zu Wasser und Strom ist nicht überall vorhanden. Brunnen wurden mutwillig vom IS zerstört, als dieser zurückgedrängt wurde oder aber die Bevölkerung lebt heute außerhalb der ursprünglichen Ortschaften, wo es keine Wasserverteilungssysteme gibt. Die Bohrung neuer Brunnen ist schwierig und kostenintensiv. Sicherheitsprobleme sind allgegenwärtig, wie z. B. durch die anhaltenden türkischen Luftangriffe, aber auch durch politische Instabilität und die fehlende Rechtsstaatlichkeit im Irak. Viele Menschen haben durch den Verlust von Fahrzeugen, Maschinen und Tieren ihre Arbeitsgrundlage verloren. Die Arbeitslosigkeit ist extrem hoch.

Vom IS freigekommene Frauen werden im heiligen Zentrum Laliş in Kurdistan symbolisch neu getauft. Die Gefangenschaft bleibt jedoch ein gesellschaftliches Stigma, das es ihnen erschwert, beispielsweise einen Ehepartner zu finden. Frauen erhalten nicht die psychologische und medizinische Hilfe, die sie benötigen. Es gibt keine Frauenklinik in Shingal.  Das Gesundheitssystem liegt insgesamt am Boden. 2.500 Familien leben in Zelten.

Es gibt rechtliche und soziale Probleme, auch in Bezug auf Landrechte. Der IS hat Landminen hinterlassen, denen Ezid_innen bereits einige Male zum Opfer gefallen sind. Eine rechtliche und gesellschaftliche Aufarbeitung des Genozides fehlt bis heute im Irak. Es besteht nach wie vor kein politischer Status für Shingal und es ist unklar, was aus den bewaffneten ezidischen Einheiten werden soll, die sich nach dem August 2014 gegründet und das Machtvakuum gefüllt haben. Dass die Provinz Shingal zu den sogenannten strittigen Gebieten zählt, die nach Artikel 140 der irakischen Verfassung per Referendum entscheiden können, ob sie von Bagdad oder Erbil (Kurdistan) aus verwaltet werden möchten, erhöht die politischen Spannungen zwischen Bagdad und Kurdistan, die beide um Shingal konkurrieren.

Das gesellschaftliche Trauma ist groß. Familien sind zerrissen. Ihre Mitglieder befinden sich in Shingal oder gelangten durch staatliche Aufnahmeprogramme nach Kanada und Australien. Die meisten leben nach wie vor  in Flüchtlingslagern in Kurdistan oder in Europa. Noch immer wissen Überlebende nicht, ob die Überreste ihrer Familienangehörigen in den Massengräbern in Shingal sind, die teils durch die Wetterverhältnisse oder durch Wild beschädigt wurden, so dass einige Überreste gar nicht mehr auffindbar sind. Von ca. 2.800 Frauen, Männern und Kindern in IS-Gefangenschaft fehlt bis heute jede Spur. Die Nachbarschaft zu Araber_innen ist oftmals schwierig, denn Ezid_innen wissen oder vermuten, dass sich Teile dieser Stämme dem IS angeschlossen hatten. Die fehlende Aufarbeitung und Versöhnung macht einen Wiederaufbau von Vertrauen fast unmöglich.

Trauma

Die posttraumatischen Belastungsstörungen bei Ezid_innen aus Shingal sind zahlreich bei Einzelpersonen und als Gruppe dokumentiert. Ezid_innen verstehen ihr Leid als kollektiv, das sie aufgrund der Gruppenzugehörigkeit erleiden. Sie sprechen in Bezug auf die Angriffe des IS seit dem 3. August 2014 vom 73. Genozid. Jene, die die Anschläge vom 14. August 2007 in den Ortschaften Til Ezêr und Sîba Şêx Xidir, denen über 500 Menschen zum Opfer fielen, auch als Genozid bezeichnen, sprechen heute vom 74. Genozid. Es besteht ein generationenübergreifendes und über Generationen weitergegebenes, historisches Trauma.

Als nicht-muslimische Gruppe waren Ezid_innen oftmals Verfolgung und Diskriminierung durch radikale Muslime ausgesetzt, lebten in mangelnder Sicherheit und litten unter religiöser Intoleranz. Die Erfahrung einer historischen, kollektiven Opferrolle ist zu einem Identitätsmerkmal geworden. Die Methoden des IS, u.a. Ermordung von Männern und Versklavung und Zwangsislamisierung von Frauen und Kindern, lässt bei den Ezid_innen Erinnerungen an Genozide aus der Zeit des Osmanischen Reiches wieder wach werden.

Die Folgen des Traumas werden u.a. dadurch bestimmt, wie die Länder, in denen Ezid_innen leben, den offenen Fragen wie der Anerkennung, der rechtlichen und gesellschaftlichen Aufarbeitung des Genozides, der Familienzusammenführung gegenüberstehen. Auch spielt eine Rolle, ob und wie sich die Ezid_innen als Gruppe in Entscheidungsprozesse einbringen können. Die Möglichkeit das Trauma zu überwinden, spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab, die sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. So lassen sich z.B. interne und externe Faktoren in Bezug auf das Individuum, die Gruppe oder Gesamtgesellschaft unterscheiden.

Trauer und Gedenken

Die Trauer wird bei den Ezid_innen sowohl individuell als auch gemeinschaftlich ausgetragen. Bereits zu Beginn des anhaltenden Genozides wurden Klagelieger von Männern und Frauen gesungen und meist über digitale Tools verbreitet. Zahlreiche Lieder, Gedichte, Bilder und Zeichnungen sind entstanden, die Bereiche wie Informationen zum Geschehen, Leid und Kummer sowie Zukunftswünsche thematisieren. Shingal ist zu einem Symbol für Ezid_innen weltweit geworden.

Stets zum 3. August finden weltweit Veranstaltungen zur Erinnerung an den Genozid vor Ort oder im digitalen Raum statt. Vereine, Gruppierungen, Dorfgemeinschaften, allein, in Kooperation oder Einzelpersonen organisieren Gedenkveranstaltungen. Mit den Jahren wurden immer deutlicher Forderungen nach rechtlicher Aufarbeitung, Wiederaufbau von und Sicherheit in Shingal laut.

In Shingal sind mehrere Erinnerungsorte entstanden, die die Ezid_innen selbst geschaffen haben. Diese stehen im öffentlichen Raum und werden besonders an ezidischen Festtagen und Gedenktagen gezielt aufgesucht.

Ein Gedicht von Sebra Xaltî

Vergisst Şengal nicht…

Lasst uns nehmen paar Minuten
Und wenn es sind nur paar Sekunden
Lass uns wieder erinnern an Şengal
für uns Eziden Heiligtum und Mahnmal.
Vergiss nicht…die Mütter und Töchter,
die noch ausgeliefert sind
den gottlosen Tätern.
Vergiss nicht…die Frauen und Mädchen, verschleppt und versklavt,
in schwarzer Finsternis verschollen.
Nicht…die Väter und die Brüder,
die umgekommen sind,
durch die Hand der Verräter.
Vergiss nicht…das kleine Kind unschuldig
und hungrig auf der Flucht,
das verzweifelt nach der Mutter sucht.
Vergiss nicht… den armen Greis,
der sich ohnmächtig und wütend fragt:
„Warum zahlen wir wieder diesen hohen Preis?“.
Vergiss nicht…  die verkaufte und weitergereichte Braut,
die am Leben verzweifelt um Hoffnungen und Träume beraubt.

Rechtliche Aufarbeitung

Tausende (mutmaßliche) Anhänger_innen des Islamischen Staates (IS) befinden sich in Gefängnissen der SDF (Syrian Democratic Forces) in Rojava (Nordsyrien) und im Irak (inkl. Kurdistan). Im Mai 2021 hat UNITAD (UN-Ermittlungsteam für die Verfolgung der Verbrechen des IS) im Irak die Gewalt durch den IS gegen die Ezid_innen als Genozid bezeichnet. Im Irak selbst gibt es den Straftatbestand des Völkermordes nicht. IS-Anhänger_innen werden nach Anti-Terrorgesetzen Kurdistans und des Irak verurteilt. Die Prozesse im Irak werden von Menschenrechtsorganisationen besonders deshalb kritisiert, da es sich hierbei zumeist um Schnellverfahren handelt, durch die die Straftaten kaum in vollem Umfang aufgearbeitet werden können. Die Gerichte in Kurdistan und im Irak kooperieren kaum oder gar nicht. Europäische und andere Staaten diskutierten unterdessen über die mögliche Rückführung eigener Staatsangehöriger, die sich dem IS angeschlossen hatten und in Syrien und im Irak inhaftiert sind. Ezidische Organisationen forderten immer wieder ein internationales Tribunal, um den Genozid rechtlich in Gänze aufzuarbeiten.

Das erste Gerichtsverfahren, das den Strafbestand des Völkermordes an den Ezid_innen in die Anklage aufnahm, war der Fall gegen den Iraker und ehemaligen IS-Anhänger Taha Al-J. am OLG Frankfurt. Dieser im April 2021 begonnene Prozess endete am 30. November 2021 mit einem Urteil u.a. wegen Völkermords und Kriegsverbrechen. Der Angeklagte wurde zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Seine Ex-Frau Jennifer W. wurde im Oktober 2021 vom OLG München zu 10 Jahren Haft verurteilt. Taha Al-J. soll mit seiner damaligen Ehefrau eine Ezidin und deren fünfjährige Tochter versklavt haben. Das ezidische Kind verstarb, weil es bestraft wurde, indem es angekettet enormer Hitze ausgesetzt war. Amnesty International bewertete diesen Prozess als historisch. Zum einen, weil es der erste Prozess weltweit war, der den Strafbestand des Völkermordes an den Ezid_innen aufnahm und behandelte. Zum anderen kam zum ersten Mal das Weltrechtsprinzip zum Einsatz, ohne dass ein Bezug zu Deutschland gegeben war. Taha Al-.J. war in Griechenland verhaftet und nach Deutschland überführt worden. Beobachter_innen kritisierten dennoch, dass weder die geschlechtsspezifischen noch religiösen Bezüge zum Völkermord thematisiert wurden. Besondere Aufmerksamkeit bekam der Prozess nicht zuletzt dadurch, dass die geschädigte Ezidin durch die Staranwältin Amal Clooney vertreten wurde, die auch schon in anderen Fällen für Ezid_innen tätig geworden war, wie z.B. im Prozess gegen die französische Zementfirma Lafarge, der eine Mitfinanzierung des IS und damit eine Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen worden war.

Deutsche Gerichte haben mehrere IS-Mitglieder wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Bezug auf ihr Agieren gegen Ezid_innn verurteilt: neben Taha al-J. und Jennifer W. sind dies Sarah O., Nurten J., Omaima A., Jalda A., Leonora M. und Romeina S. Die Prozesse gegen Leonora M. am OLG Naumburg und gegen Sarah O. fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil sie zur Zeit ihrer Mitgliedschaft beim IS minderjährig waren.

Die ezidische Zeugin im Prozess gegen Jalda A. hat auch in den Prozessen gegen Sarah O., Nurten J und Omaima A. als Hauptzeugin und Nebenklägerin ausgesagt. Vor Jalda A. war sie bereits von Sara O. versklavt und misshandelt worden, die insgesamt sechs Ezidinnen versklavt hatte. In dieser Zeit wurde sie an Sara O.s deutsche Freundinnen Nurten J. und Omaima A. „ausgeliehen“. Jalda A. war in dem Gefängnis namnes Camp Hol der SDF, ehe sie im Oktober 2021 nach Deutschland überführt wurde. In Deutschland wurde sie direkt festgenommen. Der Strafprozess gegen sie begann im April 2022.

Laut eines vom Yazidi Justice Committee im Juni 2022 veröffentlichten Berichts sollen mindestens drei Staaten in Bezug auf den Völkermord an den Ezid_innen geltendes Völkerrecht gebrochen haben: die Türkei, Syrien und der Irak. Ob am Internationalen Strafgerichtshof gegen einen dieser Staaten Anklage erhoben wird ist ungewiss. Der Dachverband des Ezidischen Frauenrats reichte 2019 Strafanzeige gegen die Bundesregierung, gegen Justizministerin Katarina Barley (SPD) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) ein, mit dem Vorwurf, dass diese nicht gegen deutsche IS-Anhänger vorgingen, die in Syrien in Haft säßen. Zu einem Verfahren kam es nicht.

Überlebende

Im Rahmen des Ferman (Völkermord) an den Ezid_innen werden all jene als Überlebende bezeichnet, die am 3. August 2014 in Shingal (Irak) waren und die Angriffe und die folgende Gewalt (z.B. Verschleppung und Versklavung) des Islamischen Staates überlebt haben. Besondere mediale, politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit wird jenen zugeteilt, die in der Gefangenschaft des Islamischen Staates waren. Von den ursprünglich über 6.000 versklavten Ezid_innen sind immer noch fast die Hälfte in Gefangenschaft. Andere konnten durch Befreiung, eigene Fluchtversuche oder durch Freikäufe der Gewalt entkommen. Vier junge ezidische Überlebende, die sich seit Jahren für Aufklärung und Gerechtigkeit engagieren und heute in Deutschland leben, sollen hier kurz portraitiert werden.

Najlaa Matto

  • Geb. 1985 in Kocho, Shingal
  • Ab 3. August 2014 war das Dorf Kocho umzingelt vom IS, Verschleppung durch den IS am 15. August 2014
  • Befreiung vom IS am 9. April 2015
  • Heute: Vorbereitung für eine Ausbildung, Schreiben an einem Buch, Erlernen der deutschen Sprache

„Ich möchte raus gehen, damit die Welt erfährt, was passiert ist und wir eines Tages Gerechtigkeit erleben. Bis jetzt haben wir keine Gerechtigkeit in Bezug auf den Ferman erfahren. (…) Gerechtigkeit bedeutet, dass der IS zur Rechenschaft gezogen wird und Sicherheit garantiert wird, so dass Menschen zurück nach Shingal kehren können, dass ihr Leben wieder wie früher wird. Sie haben ihr Land verloren, ihr Hab und Gut und ihre Familien.“

(freie Übersetzung aus dem Kurdischen)

Ardawan Abdi

  • Geb. 2000 in Solah, Shingal
  • Verschleppung durch den IS beim Fluchtversuch am 3. August 2014
  • Befreiung vom IS am 18. Februar 2015
  • Heute: Beendigung einer Ausbildung, Dolmetscher und politisch engagiert

„Mein großes Thema sind Menschenrechte (…) weltweit, aber auch im Irak. (…)[Der] Völkermord an den Jesiden ist und bleibt mein Schwerpunkt Nr. 1. Die Arbeit, die ich als Zeitzeuge in Schulklassen, auf Veranstaltungen oder an Universitäten leiste, will ich weiterhin tun, denn ich sehe einen Sinn. Ich möchte mit meiner Arbeit als Zeitzeuge, als IS-Überlebender, der Welt zeigen, was wir erlebt haben und welche Ungerechtigkeit uns angetan wurde.“

Farhad Silo

  • Geb. 2002, Shingal
  • Flucht am 3. August 2014 in das Shingalgebirge, nachdem u.a. sein Vater ermordet wurde, eine Woche im Gebirge vom IS umzingelt
  • 10. August 2014 über einen Korridor nach Nordsyrien (Rojava) gerettet
  • Heute: 2021 Veröffentlichung des Buches „Der Tag, an dem meine Kindheit endete“, 2023 Abitur

„Ich glaube, dass Projekte und Vereine sehr viel bewirken können. Sie können, auch wenn sie klein sind, den Überlebenden das Gefühl geben, dass sie nicht alleine sind, dass es jemanden gibt, der an sie denkt, der sich um sie kümmert.“

Hakeema Taha

  • Geb. 1995 in Kocho, Shingal
  • Verschleppung durch den IS am 15. August 2014 in Kocho
  • Befreiung vom IS und spätere Ankunft in Zaxo (Kurdistan/Irak) am 5. November 2014
  • Ankunft in Stuttgart im Dezember 2015
  • Heute: Abgeschlossene Ausbildung und Tätigkeit als Altenpflegerin

„Ich bin mit meinem Leben hier (in Deutschland) zufrieden und ich bin sehr glücklich hier zu sein. Doch ehrlich gesagt geht es mir nicht gut, weil ich immer an die im Irak Zurückgebliebenen denke, besonders an die, die in den Camps (Flüchtlingslagern) leben. Ich bekomme mit und höre, dass ihr Zustand nicht gut ist. Ich kann nichts dagegen tun und sie haben keine andere Möglichkeit als in den Camps zu bleiben.“